Samstag, 11. November 2006

Murphy hat einen Ständer

Mein Pferd ist erregt. Ich denke mir, dass er an etwas denkt, denn der Gedanke, dass er einfach aus heiterem Himmel einen Ständer bekommt, während er so dasteht und kaut, scheint mir abwegig. Noch abwegiger jedoch ist der Gedanke, dass er einen Ständer bekommt und es gar nicht merkt, gar nicht reagiert im Kopf; dass alles nur eine physische Reaktion ist, eine Finte der Materie und Murphy nichts ist als eine weitere Ausdehnung derselben, das heißt etwas, das neben seinem Ständer auch noch da ist.

Nehmen wir also an, dass er es merkt. Wird er es nur verzeichnen und in irgendeinem uns verborgenen Register ablegen, oder wird er die naheliegendste Handlung in seinem Kopf vorwegnehmen? Ich denke mir, dass er an eine Stute denkt, besonders, wenn er einen Moment lang innehält beim Kauen und ganz still ist und dann im nächsten Moment sein Schwanz gegen die Bauchdecke schnellt. Bleibt die Frage der Chronologie. Stute - Ständer, Ständer - Stute.

Ich habe ihn gestern gesehen, wie er eine Stute besprungen hat. Es war schon fast dunkel und mein Nachbar hat diese Begegnung herbeigeführt. Murphy bäumte sich auf wie wild. Er wusste genau, was vor sich geht, er war furchtbar erregt und man konnte den Kampf sehen, der in seinem Körper tobte. Der Strick um seinen Hals spannte sich, als er die Stute besprang, die seltsam in Erwartung war. Zwei, drei heftige Stöße, nicht mehr, dann verharrte er auf dem Rücken der Stute und glitt schließlich vorsichtig von ihr. Ruhe. Danach wiegten sich die beiden in der Abenddämmerung wie ein Liebespaar. Murphy ließ seine Nüstern über die Hinterläufe der Stute gleiten, berührte ihr Geschlecht (ich sage nicht: "ihre Scham"), strich über ihren Rücken und zuletzt verschränkten sie ihre Köpfe ineinander und verharrten beinahe regungslos. Selbst der Verwalter unserer Estancia, die nicht mehr ist als zwei Holzhäuser, ein Zeile aus Pferdekoopeln und kleiner Fluplatz für den Motordrachen meines Freundes und viel Land; mein Nachbar, der auf Pferderücken groß geworden ist, wies mich darauf hin, wie romantisch sie doch seien. Und ich muss gestehen, ich war beeindruckt gestern bei meiner ersten Pferdenummer.

05
... wie ich diese Nächte vermisse, damals in Colina, Chile 1997 - wo alles ein Ereignis und ich nur ein Staubkorn war - im Mondschatten der Anden

Jetzt, Stunden später hat Murphy wieder ein steifes Glied. Erinnert er sich, denkt er an sie? Oder denkt er an Stuten allgemein? Nein, werden sie ausrufen, geneigter Leser. Ein Pferd denkt doch nicht. Und sie wollen damit sagen, dass ein Pferd kein Bewusstsein hat. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch dieses, das haben wir in der Schule eingetrichtert bekommen - wie eine Rechennummer. Doch was heißt Bewusstsein, frage ich sie? Wenn wir von Bewusstsein sprechen, meinen wir im allgemeinen Selbstbewusstsein und etwas, das der Natur entgegengesetzt ist. Etwas, mit dem wir permanent aus der Natur herauszufallen drohen, während wir in der Realität die Natur kaputt machen mit unsren niedrigsten Instinkten. Wo ist die reflexive Kraft, die uns identisch macht, in unsrem Leben? Die Arbeit am Begriff, mit der das Menschentier sich rühmlich abzuheben glaubt, was anderes als Hirngespinst von Philosophen?

Weiß Murphy, dass er Murphy ist? Nein, werden sie ausrufen. Murphy fällt durch sein Bewusstsein nirgends heraus, und schon gar nicht aus der Natur. Aber er weiß doch, das nehme ich an, dass er nicht ich ist. Er weiß, dass ich anders bin als er. Oder? Ich meine, dass ich kein Pferd bin, sollte ihm doch klar sein. Wenn er aber weiß, dass ich nicht er bin, dann weiß er doch auch, dass er nicht ich ist. Er hat also in einer bestimmten Weise, ein Bewusstsein von dem, was er nicht ist. Was ich sagen will, ist, dass er weiß, wo er aufhört und was anderes anfängt, oder umgekehrt, wo was anderes aufhört und er anfängt.

Murphy steht zitternd in seiner Koppel und hat einen Ständer. Es ist Nacht. Wir halten bei Pisco Nr. 7. Er ist nicht mein Pferd - spät aber doch, muss ich zugeben, dass er das Pferd des Nachbarn ist und ich nur zu Besuch bin. Auch meine beiden Hunde, die mich jeden Tag ins Dickicht der Berge begleiten, bis ich vor lauter Kratzer, die Haut an den Beinen nicht mehr sehe, sind nicht meine Hunde. Auch wenn sie mich Nachts in den Felsen lautlos verfolgen wie meine guten Geister. Wieviel Wochen ich hier bin, hab ich vergessen, so da, wie man nur hier sein kann. Ich sitze herum oder gehe die Landschaft ab, den ganzen Tag, zwinge mich nichts zu tun, nichts, was ablenkt und die Leute nur erfinden, weil sie Angst haben - eine ganze abstrakte Angst. Murphy hat bestimmt keine Angst. Er fürchtet sich vor konkreten Dingen, vielleicht, aber Angst sollte ihm fremd sein. Ich weiß, auch mit dem Fürchten ist es nicht leicht bei Tieren, seit man uns einreden will, dass die Tiermasse doch nur aus Reflexen besteht, vegetatives Reagieren. Murphy kaut vor sich hin. Er kaut viel und gründlich, stundenlang. Ich kann ihn von dem Platz, an dem ich normalerweise sitze, gut beobachten. Er kaut sozusagen im Zentrum meines Blickfeldes, während ich mir Notizen mache, lese oder ganz einfach schaue, ohne zu kauen.

Murphy ist meistens alleine. Mitunter blickt er in meine Richtung, als ob er Hilfe sucht oder einen Komplizen. Weil er ein Hengst ist, wird er von den anderen Pferden getrennt, erklärt mir mein Nachbar. Spät abends, der Mond wirft ein groteskes Muster an die Mauer des Hofes, wird Murphy unruhig und rennt gegen den Verschlag der Koppel an. Ich kann hören, wie sich seine Nüstern blähen. Als er sich plötzlich aufbäumt und mit einem lauten Wiehern den Stuten draußen eine archaische Antwort schickt, greife ich instinktiv nach dem Glas Wasser, das neben mir steht.

Weiß Murphy, dass er mich erregt? Ich sollte froh sein, dass er nicht aufschreiben kann, was er über mich denkt.

Siniweler - Ohne Tal

Kein Ort zum Verweilen, nirgends. Wohin uns die Reise führt? Geradewegs lotrecht zu allem, was das Herz schneller schlagen lässt.

Weblog abonnieren

xml version of this page
xml version of this page (with comments)

Abonnier' meine FriendFeed-Beiträge


User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

More Pictures

Add to Favorites

Add to Technorati Favorites

Aktuelle Beiträge

Halb so wild
Habe die Überschreitung am 10.9. solo absolviert -...
WG (Gast) - 12. Sep, 11:15
Your Blog is so interesting!...
Your Blog is so interesting! Keep going :)
kundentests.com (Gast) - 4. Aug, 14:22
Beyond good and evil
"In the house of pain, we were chained together searching...
coyote05 - 5. Okt, 22:17
"Change" remains the...
Adam Ondra in Norwegen bei der Arbeit an der Zukunft...
coyote05 - 4. Sep, 15:47
Speed at Voralpsee
Kann mich gut an Voralpsee erinnern, auch wenn ich...
coyote05 - 24. Aug, 18:06

Credits


The Hype Machine

Knallgrau New Media Solutions - Web Agentur f�r neue Medien

powered by Antville powered by Helma


xml version of this page
xml version of this page (summary)

Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de twoday.net AGB

Österreicher Blog Verzeichnis XING

Books
Details
Faces
Features
Grafics
Kick & Rush
Movies
Music
Names
Nature
Places
Poetry
Politics
Postmodernism
Secrets
Shortcuts
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
Clicky Web Analytics