Am Schreiben Gehen...

Ein Mann schreibt seiner Frau einen Brief.

Obwohl er sie täglich sieht, obwohl er tagein, tagaus die Möglichkeit hat, mit ihr zu sprechen, setzt er sich eines Abends an seinen Schreibtisch und beginnt einen Brief an sie.

Ohne etwas Bestimmtes mitteilen zu wollen. Schon der Gedanke, sein Wort an sie als eine Abwesende zu richten, macht ihn ganz aufgeregt.

Vielleicht weil er auch sich in diesem Moment als abwesend denkt und allein der Gedanke an die Möglichkeit, nicht da zu sein, seine Gefühle in einer nicht erwarteten Art und Weise intensiviert, das Feuer, das in ihm mitunter nur mehr ziellos flackerte, aufs Neue zum Auflodern bringt.

Dabei sieht er sie morgens nichtsahnend zum Postkasten gehen, ihn öffnen und dann diesen Brief in der Hand halten, mit seinem Namen als Absender, der ihr Herz schneller schlagen lässt – aus Angst. Was mag passiert sein? Wer schreibt schon einen Brief nach 30 Jahren? Und dann – zunächst zögerlich, doch schon gleich mit heißem, pochenden Blut über die Zeilen fliegt, die ein Mann ihr geschrieben hat, ihr Mann, von dem sie vergessen hat, das er einst ihr Liebhaber war.

Vielleicht ist das der einzige Grund, um mit dem Schreiben zu beginnen: der therapeutische. Alles weitere wird sich zeigen, denkt er. Vielleicht kann er mit dem Schreiben das abfangen, was er den Verfall nennt, das Ausfransen seiner Persönlichkeit, und vielleicht kann er auch gerade durch das Schreiben zu einem besseren Menschen werden, weil er nicht alles leben muss, sondern nur einen Teil davon, und im anderen Teil als Schrift über die Zeilen jagt – mal sehen, was kommt.

Er bräuchte dann nicht mehr warten, dass ihm jemand, das heißt natürlich seine Nächste, sein Weib, Gehör schenkt, er müsste nicht mehr um Verständnis betteln und sein Selbstbild daran heften, weil er das, was nicht gehört oder überhört werden will, einfach niederschreibt in ein Heft, in dieses – nur um es am Ende vielleicht zu verbrennen oder viel wahrscheinlicher in einer Ecke des Zimmers zu vergessen.

Weil er kein Tagebuch schreiben wollte, dachte er immer, dass er etwas erfinden müsste, obwohl er wusste, dass gerade die fehlende Imagination seine große Schwäche war. Doch sobald er dieses Fremdwort ins Deutsche und damit – als Einbildungskraft - auf den Boden geholt hatte, war es etwas, von dem er genug in sich verspürte. Deshalb auch seine Isolierung. Seine Einbildungskraft war der Grund dafür, dass er seine Welt nicht verlassen und nicht herausfinden konnte aus seinen Projektionen, die ihm mitunter das Leben zur Hölle machten. Wie sehr er doch angewiesen war, eine Projektionsfläche zu erzeugen, eine linierte in Gestalt der Schrift. Wo Therapie und Einbildungskraft zusammenfielen, konnte er sich als Gefäß begreifen, das ausgeschüttet werden will, um nicht allmählich ihrer Farbe und ihres Inhalts verlustig zu werden und am Ende nicht einmal mehr ihn selbst zu interessieren.

Vielleicht brachte ihn der Prozess des Schreibens ja auch dazu, ein besserer Mensch, ein besserer Ehemann zu werden, der seine Gerechtigkeit nicht immer im Leben suchen muss, wie ein halbwüchsiger Kohlhaas anrennt gegen das Unrecht der Welt. Und vielleicht besäße er dann auch irgendwann die Freiheit und Ruhe, seiner Frau und anderen Menschen ins Gesicht, in die Seele zu blicken und zu sehen, was sie wirklich bewegt. Und er hoffte insgeheim, dass er dann auch imstande wäre, ihr jenen Raum zu geben und jene Nähe, die sie brauchte und deren Mischungsverhältnis sie jeden Tag aufs Neue bestimmte, und dass er dann endlich fähig wäre, über diesen Grat mit einer Leichtigkeit zu tanzen, die voll von Grazie ist und von wahrem Gefühl, weil es da einen anderen Raum gäbe, der ihn auffangen konnte, den Raum der Zeichen und der Bedeutungen, von dem er solange glaubte, ohne ihn auszukommen.

Er würde dann nicht mehr Schuldigkeiten suchen, wie einer, dem es an Orientierung mangelt, und endlich würde er wieder neugierig sein, auf das, was kommt, auf ihn zukommt, wie eine große Herausforderung, die Leben heißt. Und er dachte an alle die Dinge, die sein Herz schneller schlagen ließen.

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Siniweler - Ohne Tal

Kein Ort zum Verweilen, nirgends. Wohin uns die Reise führt? Geradewegs lotrecht zu allem, was das Herz schneller schlagen lässt.

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