Männer und Frauen ...

John Berger ist ein Poet und Denker. Einer, der aufs Ganze geht, der sich nicht nach dem Wind dreht. Das macht ihn spannend und nicht unbedingt zitierfähiger. Denn cool ist seine Unterscheidung zwischen Männer und Frauen sicher nicht. Wohl aber mit Momenten, in denen Wahrheit aufleuchtet. Und mehr kann man von ihr ja wohl auch nicht verlangen....

Lesen Sie selbst:
Nach Bräuchen und Konventionen, die zwar heute kritisch befragt werden, aber noch keineswegs überwunden sind, unterscheidet sich die gesellschaftliche Erscheinung einer Frau - ihr Auftreten - von dem eines Mannes. Das wirksame Auftreten des Mannes ist abhängig von der Verheißung der Kraft und der Macht, die er verkörpert. Je mehr und je glaubwürdiger er etwas verheißt, desto eindrucksvoller ist sein Auftreten. Der Mann kann moralische, physische, betont persönliche, gesellschaftliche oder sexuelle Macht und Kraft verheißen, auf jeden Fall aber liegt das Ziel, auf das sie sich richtet, außerhalb des Mannes. Sein Auftreten lässt darauf schließen, was er für dich oder dir zu tun imstande ist. ......

Im Gegensatz dazu drückt das Auftreten und damit die Erscheinung einer Frau ihre Einstellung zu sich selbst aus und macht darüber hinaus klar, was man mit ihr tun kann und was nicht. Ihr Auftreten (ihre Erscheinung) manifestiert sich in ihren Gesten, ihrer Stimme, ihren Meinungen, Äußerungen, Kleidern, in ihrem Geschmack und der von ihr gewählten Umgebung - tatsächlich kann sie nichts tun, was nicht zu ihrer Erscheinung beiträgt. Die Erscheinung der Frau ist so wesentlich für ihre Persönlichkeit, dass Männer dazu neigen, sie für eine fast physische Ausstrahlung zu halten, eine Art Hitze, Geruch, oder Aura.

Die Frau wird in einen ihr zugeteilten und beschränkten Raum hineingeboren, in die Obhut des Mannes. Das gesellschaftliche Auftreten der Frau, ihre Stellung in der Gesellschaft, konnte sich demzufolge nur entwickeln als Ergebnis ihrer Lebenstüchtigkeit, die sie unter der männlichen Bevormundung innerhalb des begrenzten Raumes erworben hat. Diese Entwicklung vollzog sich auf Kosten einer Spaltung ihres Selbst. Eine Frau muss sich ständig selbst beobachten und wird fast ständig von dem Bild begleitet, das sie sich von sich selbst macht. Ob sie durch ein Zimmer geht oder über den Tod ihres Vaters weint, sie wird es kaum vermeiden können, sich selbst beim Gehen oder Weinen zu beobachten. Von frühester Kindheit an hat man ihr beigebracht und sie dazu überredet, sich ständiger Selbstkontrolle zu unterwerfen.

Und so kommt sie dazu, den Prüfer und die Geprüfte in ihr als die beiden wesentlichen, doch immer getrennten Komponenten ihrer Identität als Frau anzusehen. Sie muss alles prüfen, was sie ist, und alles, was sie tut, denn wie sie sich anderen darstellt, und - letzten Endes - wie sie sich den Männern darstellt, ist von entscheidender Bedeutung dafür, was man gemeinhin als den Erfolg ihres Lebens ansieht. Ihr eigenes Selbstgefühl wird durch das Gefühl verdrängt, etwas in der Einschätzung anderer zu sein.

Männer prüfen Frauen, ehe sie mit ihnen umgehen. Wie eine Frau sich einem Mann darstellt, kann in der Folge darüber entscheiden, wie sie von ihm behandelt wird. Um eine gewisse Kontrolle über diesen Vorgang zu gewinnen, müssen Frauen ihn in sich aufnehmen und verinnerlichen. Der prüfende Teil einer Frau behandelt den geprüften Teil ihres Selbst in einer Weise, die den anderen zeigt, wie ihr ganzes Selbst behandelt werden möchte. Und diese exemplarische Behandlung ihrer selbst durch sie selbst macht ihre Erscheinung aus. Auftreten und Erscheinung jeder Frau regeln, was und was nicht „zulässig“ ist in ihrer Gegenwart. .....

Wir könnten vereinfachend sagen: Männer handeln und Frauen treten auf. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. Dieser Mechanismus bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch die Beziehung von Frauen zu sich selbst. Der Prüfer der Frau in ihr selbst ist männlich - das Geprüfte weiblich. Somit verwandelt sie sich selbst in ein Objekt, ganz besonders in ein Objekt zum Anschauen - in einen „Anblick“.


John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, s. 43 f. Titel der Originalausgabe: Ways of Seeing, Penguin Books: Harmondsworth 1972

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