Freitag, 7. September 2007

Die Wörter, die Mistviecher ...

Im Roman "Unterwelt" von Don DeLillo kommt der junge Shay - stationiert in einem Umerziehungslager der Jesuiten, irgendwo in Amerika, "30 Meilen südlich der kanadischen Grenze", wie wir erfahren - zu seiner Unterredung mit dem Pater, der will, dass er ihm von seinen Fortschritten berichtet. Er fragt ihn nach den Büchern, die er liest, nach dem "Zustand seines Kopfes und seiner Seele" - bis er auf die Stiefel zu sprechen kommt, die er trägt und ihn auffordert, diese zu beschreiben. Shay beginnt zaghaft und irritiert mit den Schnürsenkel, der Sohle, dem Absatz und - auf das Drängen des Paters hin - mit der Vorderseite und der Oberseite.

Und dann die folgende Passage, in der es um alles geht, wirklich um alles.


BUCHSTABIEREN SIE MIT!

Der Pater: "Vorderseite und Oberseite. Da kommen einem ja die Tränen."
"Das gerundete Stück an der Vorderseite."
"Deine Wortgewandtheit zwingt mich gleich zu einer Pause, nur um mich wieder zu sammeln. Du hast die Schnürsenkel genannt. Wie heißt der Lappen unter den Schnürsenkeln?"
"Die Zunge."
"Und?"
"Ich kannte das Wort. Ich habe das Ding bloß nicht gesehen."
Er warf sich demonstrativ über den Schreibtisch und wand sich ein bisschen, als plagte ihn gerade der größte Gram.
"Du hast das Ding nicht gesehen, weil du nicht weißt, wie man hinsieht. Und du weißt nicht, wie man hinsieht, weil du nicht weißt, wie die Dinge heißen."

Er reckte das Kinn, äußerste, weitgehende theatralische Maßregelung, und zog den Körper von der Tischplatte zurück, ließ sein Hinterteil in den Drehstuhl plumpsen, sah mich wieder an und vollführte eine entschiedene Vierteldrehung, dann hob er das rechte Bein so weit, dass er den Fuß, den Schuh auf der Schreibtischkante postieren konnte. Der einfache schwarze Alltagsschuh eines Priesters.

"Gut", sagte er, "Sohle und Absatz sind uns bekannt."
"Ja", sagte ich.

Mit dem Finger fuhr er an den Lederstreifen entlang, der oben über den Schuh ging und dann unter den Schnürsenkeln entlangführte.

"Was ist das?" fragte ich.
"Sag du´s mir. Was ist das?"
"Ich weiß es nicht."
"Das ist die Einfassung."
"Die Einfassung. Und das steife Stück oberhalb vom Absatz. Das ist die Kappe."
"Das ist die Kappe."
"Und dieses Stück zwischen der Einfassung und dem Streifen oberhalb der Sohle. Das ist das Seitenleder."
"Das Seitenleder", sagte ich.
"Und der Streifen oberhalb der Sohle. Das ist der Rahmen. Sprich mir nach, Junge."
"Der Rahmen."
"Wie die Alltagsdinge im verborgenenen liegen. Weil wir nicht wissen, wie sie heißen. Wie heißt das vordere Stück, das den Rist bedeckt?"
"Ich weiß es nicht. "
"Du weißt es nicht. Es heißt das Vorderblatt."
"Das Vorderblatt."
"Sag es."
"Das Vorderblatt. Das vordere Stück, das den Rist bedeckt. Ich dachte, ich sollte nicht auswendig lernen."
"Du sollst keine Gedanken auswendig lernen. Und du sollst uns nicht allzu ernst nehmen, wenn wir die Nase über routinesmäßiges Lernen rümpfen. Die Routine baut den Mann mit auf. Du steckst die Schnürsenkel durch die was?"
"Das sollte ich aber wissen."
"Na klar weißt du das. Die Lochung auf beiden Seiten und oberhalb der Zunge."
"Mir fällt das Wort nicht ein. Die Öse."
"Vielleicht lass ich dich doch am Leben."
"Die Ösen."
"Ja. Und ie Metallhülle an der Spitze jedes Schnürsenkels."
Er schnippte mit dem Mittelfinger danach.
"Das fällt mir auch in einer Million Jahren nicht ein."
"Das Senkelblech."
"Nicht in einer Million Jahren."
"Senkelstift und Senkelblech."
"Das Senkelblech," sagte ich.
"Und der kleine Metallring, der den Rand der Öse verstärkt, durch die das Senkelblech geführt wird. Wir machen hier gerade Sprachphysik, Shay."
"Der kleine Ringe."
"Siehst du ihn?"
"Ja."
"Das ist der Ösenkranz," sagte er.
"O Mann."
"Der Ösenkranz. Du sollst ihn lernen, kennen und lieben."
"Ich werde wahnsinnig."
"Dies ist das endgültige Geheimwissen. Und wenn ich meinen Schuh zum Schuster bringe, und er steckt ihn auf eine Form, um ihn zu reparieren - einen Block, der wie ein Fuß geformt ist. Wie heißt der?"
"Ich weiß es nicht."
"Der Leisten."
"Mir platzt der Kopf."
"Die Alltagsdinge sind das verkannteste Wissen. Diese Bezeichnungen sind lebenswichtig für deinen Fortschritt. Habituelle Dinge. Wenn sie nicht so wichtig wären, würden wir nicht ein so großartiges lateinisches Wort dafür benutzen. Sag es," sagte er.
"Habituell."
"Ein außergewöhnliches Wort, das die Tiefe und Reichweite des Gemeinplatzes erahnen lässt."

Sein weißer Kragen hing locker unter seinem Adamsapfel, und am Hals wurde die Haut schlaff und zäh, und es schien ihn unvorbereitet zu erwischen, das Alter, spät, aber zügig.

Ich zog mir die Jacke an ...

Ich lief im Schneegestöber auf dem Apellplatz hin und her. Dann ging ich auf mein Zimmer und warf die Jacke in die Ecke. Ich wollte Wörter nachschauen. Ich stieg aus den Stiefeln und wrang meinen Mütze über dem Waschbecken aus. Ich wollte Wörter nachschauen. Ich wollte Velleität nachschauen und habituell und die Mitsviecher auswendig lernen bis in alle Ewigkeit, buchstabieren, memorieren, Silbe für Silbe aussprechen - vokalisieren, phonieren, die Laute von mir geben, die Wörter sagen, als hinge mein Leben davon ab.

Dies ist die einzige Möglichkeit auf der Welt, den Dingen zu entrinnen, die dich geprägt haben.

Siniweler - Ohne Tal

Kein Ort zum Verweilen, nirgends. Wohin uns die Reise führt? Geradewegs lotrecht zu allem, was das Herz schneller schlagen lässt.

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