Kindheitssommer
Die Sommer von damals waren eine einzige Bewegtheit. Bewusstlos und trunken trieben wir durch den Tag. Sie verflogen, die Sommer, wie eine Zeit ohne Ziffernblatt und Zeiger.
Urlaub gab es keinen. Er wurde auf dem Altar des Wirtschaftswunders geopfert, an dem nur teilhaben konnte, wer seinen braven Traum vom Eigenheim als calvinistisches Statement in eine widmungswillige Landschaft stellte. Dafür gab es Urlaubssperre und für uns Kinder des Babybooms den Sommer in seiner ursprünglichen Formlosigkeit und ohne Unterbrechung.
Sommer fand draußen statt, war Erde und Wasser und Wald. Ich habe mich beim Sommer nie bedankt, weil er entweder da war und das uneingeschränkt oder eben nicht. Ein bisschen Sommer gab es genauso wenig, wie ein bisschen Schlechtwetter. In meiner Erinnerung gibt es keinen Regen im Sommer, sondern nur erzwungene Regenpausen, in denen wir vorzüglich in Nachbars Veranda Plastikfiguren mit Rexgummis aus ihren Stellungen hinter Pflanzen, Ziertellern und Standfotos schossen oder in Kampfpausen hunderte Matschbox-Autos eine Rampe hinunterließen und danach in ausgeklügelten Statistiken die Sieger ermittelten.
Dass das nicht der Sommer war, wusste jeder von uns. Denn der schmeckte wie die Tage am See nach Sonnencreme und Anarchie. Und nach dem „Opel“, der uns in immer neuen Modellen durch diese Jahre begleitete und Kontinuität atmete, wie mein Vater durch die Filterzigaretten der Marke „Smart Export“, die er nur dann im Auto anzündete, wenn alles gut und das Einchecken in das Wochenende reibungslos abgelaufen war. Auf den Rauch in meiner Nase konnte ich mich verlassen, denn daheim war mein Vater ein Genussraucher. Und weil er in solchen Momenten auf seine Vater-Vorleberolle pfiff, liebte ich sie und genoss es, wie dadurch unter Hand aus unserer Familie eine kleine revolutionäre Zelle wurde.
Die Tage am See waren ein einziger Ausnahmezustand, weil sie den Genuss ebenso wie die Langeweile, die sonst so verpönt war in unseren Kreisen, salonfähig machten. Für uns war diese Langeweile nur ein anderes Wort für Abenteuer. Denn wir hatten buchstäblich alles, was wir zum Atmen brauchten: wir hatten den Wald im Rücken, den Kieselstrand und den grünlich schimmernden See vor uns, der nur dann etwas Warmes hatte, wenn wir uns direkt vom eiskalten Zimitzbach und den dort steil abfallenden Uferbereich hinaus ins grundlose Schwarz trieben ließen.
Das war der behütete, bürgerliche Sommer am See. Er kam und ging wie eine Jahreszeit. Standesgemäß im Juli mit einem Zeugnis in der Hand. Und er wuchs, indem er seine Tage fraß. Ein Glück mit fixem Ablaufdatum und einem melancholischen Beigeschmack, so erscheint er mir heute. Daneben gab es jedoch auch einen inoffiziellen, proletarischen Sommer am Fluss und später am Moorteich, von dem unsere Eltern nichts wussten.
Von wo ich jetzt auf den Sommer meiner Kindheit schaue, wirkt alles beinahe hermetisch abgeriegelt gegenüber jedem Blick von außen. Denn es gab alles damals außer Distanz. Der Sommer war unbedingt nahe und da, als prickelndes Wassers auf der Haut, als Geruch nach verbranntem Gras, das auf den Feldern lag, oder als feuchte Wärme, die sich als Gewitterregen auf den heißen Asphalt legte. Als Erinnerung nehme ich noch heute den Sommer vor allem durch die Nase wahr. Unvermittelt und plötzlich stand er vor unserer Tür und wir wussten instinktiv, was zu tun war.
Er kam mit aller Gewalt und ohne Vorwarnung wie die ersten Mädchen und das andere Geschlecht. Es war am Moorteich, als wir die Schlitze im morschen Holz der Umkleidekabinen entdeckten und durch diese Öffnungen eine neue, geheimnisvolle Welt der Nahaufnahme. Offenbarungen im Halbdunkel – Schamhaare und -frisuren, frische und welke Lippen, Brüste und Bäuche und Backen in allen Formen, Größen und Verpackungen, Achselhöhlen, Muttermale, Sommersprossen und vor allem Haut – schlaff, gespannt, ledern, faltig, schwammig, muskulös, glatt und geschmeidig und immer wieder: Gerüche, Gerüche, Gerüche. Draußen am Holzsteg die Parade der Eitelkeiten, drinnen im Halbdunkel intime Routine und nackte Wahrheit für die Dauer eines angehaltenen Atems.
Damals machten wir den Ausnahmezustand zur Routine. Der Sommer war los und das Verbotene lockte und schillerte in nie zuvor gesehenen Farben. Die Tage waren endlos. Doch der Sommer endete immer abrupt. Nicht mit der Schule, sondern mit Regen und einem Kälteeinbruch, der das Land unwiderruflich in den Herbst tauchte, aus dem es kein Zurück mehr gab. Wenn ich über den Sommer schreibe, kommt immer der Herbst dazwischen, genau so wie damals in der Wirklichkeit. Es kam immer dieser Morgens, an dem die Luft klarer war als sonst und das Geräusch der Kreissägen, die das Holz für den Winter richten, das Land durchschnitt. Und auch, wenn es danach noch einmal warm wurde, von da an blieb die Kühle und nistete in jedem Sonnenstrahl. Vorbei die Unbedingtheit und die Verschwendung des Sommers, nun gab es nichts mehr umsonst. Und alles gehorchte wieder einem fremden Zweck.
Im Funktionieren war ich immer gut, nur im Sommer war ich besser. Im Sommer war ich Teil von allem. Der Sommer war ein Teil von mir. Was davon blieb, ist schwer zu sagen. Die Farben sind verblasst in all den Jahren. Die Sehnsucht blieb bis heute, weil auch die Liebe ging und wieder kam. Sie frag ich in stillen Momenten: Wie viele Sommer habe ich noch?
Urlaub gab es keinen. Er wurde auf dem Altar des Wirtschaftswunders geopfert, an dem nur teilhaben konnte, wer seinen braven Traum vom Eigenheim als calvinistisches Statement in eine widmungswillige Landschaft stellte. Dafür gab es Urlaubssperre und für uns Kinder des Babybooms den Sommer in seiner ursprünglichen Formlosigkeit und ohne Unterbrechung.
Sommer fand draußen statt, war Erde und Wasser und Wald. Ich habe mich beim Sommer nie bedankt, weil er entweder da war und das uneingeschränkt oder eben nicht. Ein bisschen Sommer gab es genauso wenig, wie ein bisschen Schlechtwetter. In meiner Erinnerung gibt es keinen Regen im Sommer, sondern nur erzwungene Regenpausen, in denen wir vorzüglich in Nachbars Veranda Plastikfiguren mit Rexgummis aus ihren Stellungen hinter Pflanzen, Ziertellern und Standfotos schossen oder in Kampfpausen hunderte Matschbox-Autos eine Rampe hinunterließen und danach in ausgeklügelten Statistiken die Sieger ermittelten.
Dass das nicht der Sommer war, wusste jeder von uns. Denn der schmeckte wie die Tage am See nach Sonnencreme und Anarchie. Und nach dem „Opel“, der uns in immer neuen Modellen durch diese Jahre begleitete und Kontinuität atmete, wie mein Vater durch die Filterzigaretten der Marke „Smart Export“, die er nur dann im Auto anzündete, wenn alles gut und das Einchecken in das Wochenende reibungslos abgelaufen war. Auf den Rauch in meiner Nase konnte ich mich verlassen, denn daheim war mein Vater ein Genussraucher. Und weil er in solchen Momenten auf seine Vater-Vorleberolle pfiff, liebte ich sie und genoss es, wie dadurch unter Hand aus unserer Familie eine kleine revolutionäre Zelle wurde.
Die Tage am See waren ein einziger Ausnahmezustand, weil sie den Genuss ebenso wie die Langeweile, die sonst so verpönt war in unseren Kreisen, salonfähig machten. Für uns war diese Langeweile nur ein anderes Wort für Abenteuer. Denn wir hatten buchstäblich alles, was wir zum Atmen brauchten: wir hatten den Wald im Rücken, den Kieselstrand und den grünlich schimmernden See vor uns, der nur dann etwas Warmes hatte, wenn wir uns direkt vom eiskalten Zimitzbach und den dort steil abfallenden Uferbereich hinaus ins grundlose Schwarz trieben ließen.
Das war der behütete, bürgerliche Sommer am See. Er kam und ging wie eine Jahreszeit. Standesgemäß im Juli mit einem Zeugnis in der Hand. Und er wuchs, indem er seine Tage fraß. Ein Glück mit fixem Ablaufdatum und einem melancholischen Beigeschmack, so erscheint er mir heute. Daneben gab es jedoch auch einen inoffiziellen, proletarischen Sommer am Fluss und später am Moorteich, von dem unsere Eltern nichts wussten.
Von wo ich jetzt auf den Sommer meiner Kindheit schaue, wirkt alles beinahe hermetisch abgeriegelt gegenüber jedem Blick von außen. Denn es gab alles damals außer Distanz. Der Sommer war unbedingt nahe und da, als prickelndes Wassers auf der Haut, als Geruch nach verbranntem Gras, das auf den Feldern lag, oder als feuchte Wärme, die sich als Gewitterregen auf den heißen Asphalt legte. Als Erinnerung nehme ich noch heute den Sommer vor allem durch die Nase wahr. Unvermittelt und plötzlich stand er vor unserer Tür und wir wussten instinktiv, was zu tun war.
Er kam mit aller Gewalt und ohne Vorwarnung wie die ersten Mädchen und das andere Geschlecht. Es war am Moorteich, als wir die Schlitze im morschen Holz der Umkleidekabinen entdeckten und durch diese Öffnungen eine neue, geheimnisvolle Welt der Nahaufnahme. Offenbarungen im Halbdunkel – Schamhaare und -frisuren, frische und welke Lippen, Brüste und Bäuche und Backen in allen Formen, Größen und Verpackungen, Achselhöhlen, Muttermale, Sommersprossen und vor allem Haut – schlaff, gespannt, ledern, faltig, schwammig, muskulös, glatt und geschmeidig und immer wieder: Gerüche, Gerüche, Gerüche. Draußen am Holzsteg die Parade der Eitelkeiten, drinnen im Halbdunkel intime Routine und nackte Wahrheit für die Dauer eines angehaltenen Atems.
Damals machten wir den Ausnahmezustand zur Routine. Der Sommer war los und das Verbotene lockte und schillerte in nie zuvor gesehenen Farben. Die Tage waren endlos. Doch der Sommer endete immer abrupt. Nicht mit der Schule, sondern mit Regen und einem Kälteeinbruch, der das Land unwiderruflich in den Herbst tauchte, aus dem es kein Zurück mehr gab. Wenn ich über den Sommer schreibe, kommt immer der Herbst dazwischen, genau so wie damals in der Wirklichkeit. Es kam immer dieser Morgens, an dem die Luft klarer war als sonst und das Geräusch der Kreissägen, die das Holz für den Winter richten, das Land durchschnitt. Und auch, wenn es danach noch einmal warm wurde, von da an blieb die Kühle und nistete in jedem Sonnenstrahl. Vorbei die Unbedingtheit und die Verschwendung des Sommers, nun gab es nichts mehr umsonst. Und alles gehorchte wieder einem fremden Zweck.
Im Funktionieren war ich immer gut, nur im Sommer war ich besser. Im Sommer war ich Teil von allem. Der Sommer war ein Teil von mir. Was davon blieb, ist schwer zu sagen. Die Farben sind verblasst in all den Jahren. Die Sehnsucht blieb bis heute, weil auch die Liebe ging und wieder kam. Sie frag ich in stillen Momenten: Wie viele Sommer habe ich noch?
coyote05 - 3. Sep, 12:24