Höher steigen ...

Wer hoch genug steigt, wird das erfahren, worum es hier geht. Eine Bewegung im eigenen Körper, oder eine Reise im Sitzen, wie Gottfried Benn es genannt hätte. War es nicht von Anbeginn das Ziel meiner Reisen, diese Unruhe zu durchbrechen, die in jeder Bewegung liegt, die um Neues sich dreht. Diese Spirale der Neugier und Neuigkeiten hinter mir zu lassen.

Ich erinnere mich, welchen Eindruck diese Wortschöpfung der Reise im Sitzen auf mich machte, als ich sie zum ersten Mal vernahm, ein Versprechen lag darin, ein Versprechen von einem bewegten Verweilen. Ganz anders als die Zerstreutheit, die mich sonst oft auf Reisen verfolgt, diese Wahrnehmungsvielfalt und ein dauernder Druck auf den Augenlidern, die sich schließen wollten vor soviel Fülle, dass ich so ganz aus der Fassung geriet, mich nicht mehr fassen konnte, kein Gegenüber mehr und kein Filter, mir meine Existenz abhanden kam und ich am Abgrund stand von allem, was ich war. Die Sehnsucht nach sorgfältig dosierten Wahrnehmungshäppchen, nach einem vertrauten Platz, wo plötzlich das Ungewohnte sich auftut und ich aus dem Vollen schöpfen konnte, aus dem Vollen meiner Existenz, dies aufzunehmen und zu beschreiben.

Die Schönheit wird ein Beben sein oder sie wird nicht sein, - und dieses Beben kann nur ergründen, wer festen Boden unter sich hat, nicht vollkommen aufgeht in der Erschütterung, wie André Breton zu ergänzen wäre.

Man geht also weiter, höher und höher, und während man aufsteigt nimmt man die Umgebung bloß aus den Augenwinkeln wahr. Man ist ganz in sich, zusammengezogen auf eine Kommandozentrale, die keinen festen Ort hat und monoton ein Wort vor sich hinmurmelt: weiter. Und wenn man dann stehenbleibt, um zu atmen, den Kopf zwischen den Schultern ruhend zuerst, und ihn dann vielleicht hebt, Augenblicke vor dem nächsten Schritt, ist es, als ob man hinausschaut aus einem Haus, als ob man ein Fenster öffnet. Nicht mit beiden Armen, um sich hinauszulehnen, sondern bloß für kurz und einen Spalt breit, hinauslugt, als ob man das Licht nicht ertragen könnte oder die Schönheit oder das Beben.

Dieses Blinzeln, das wir im Alltag nicht kennen, paradoxe Neugier, die Angst hat, dass sie sich verbrennt. Wo wir ansonsten sperrangelweit geöffnet sind und vollkommen durchlässig für alles und jedes. Genau so, wie man es von uns verlangt, Eingänge und Ausgänge überall, löchrig, undicht, um etwas zu empfangen, von dem wir nicht wissen, ob wir es empfangen wollen, Botschaften, Informationen, Berührungen, Schmerzen. Wir, die wir alltäglich total erschlossen sind, aufgemacht und freigelegt, wie die Knochen vom Fleisch eines toten Tiers. Aufgemacht aber nicht offen, erschlossen aber nicht geöffnet, wenn Offenheit einen Platz meint, wo man sich niederlassen könnte, ein Platz der Ruhe, ein Ort der Gastfreundschaft.

Wo alles hindurchgehen kann, eiligst, ohne eine Spur zu hinterlassen, wo es keine Räume gibt, wo Dinge, Ereignisse, Gesten, Worte sich verlangsamen und dadurch Bedeutung gewinnen, ist Offenheit kein Regulativ der Bewegung mehr, und bezeichnet nichts als die Leerstelle des Widerstands. Und wir sind Katalysatoren unserer Umgebung, sind bewusstloser Teil der Beschleunigung der Dinge um uns herum, ohne selbst verbraucht, berührt zu werden.

Beim Höhersteigen, einen Schritt nach dem anderen, sind die Jalousien der Fenster heruntergelassen. Alles steht im Zeichen einer existentiellen Ökonomie, im Zeichen des Schutzes von Energien und Reserven. Aber es gibt diese Gucklöcher, an denen wir so wachsam und sensibel sind, daß es uns beglückt. Wir sehen die Welt nur einen Spalt breit, aber mit der höchsten Intensität. Reduktion, Verdichtung, Unmitttelbarkeit dort, wo die Hand die Jalousie hebt.

Wo wir beim Klettern ganz als Oberfläche existieren, die atmet und pulsiert, existieren wir beim Höhenbergsteigen als Tiefe, als Schacht, als Brunnen, als Punkt, der ein Quasi-Ort und ständig in Bewegung ist. Die Sehnsucht einzuschlafen oder die Fähigkeit, uns zurückzuziehen aus bedrohten Teilen unseres Körpers, markiert diesen Zustand am deutlichsten. Der Atem tropft voraus, das Blut pulst drückend an den Schläfen, die Finger werden starr vor Kälte. Alles geschieht am und mit dem eigenen Körper und doch ist man selbst nur Zuschauer, der jede Veränderung penibel verzeichnet, weil die eigene Existenz am Spiel und auf der Bühne steht und rezitiert.

In solchen Momenten ahnt man, dass auch der Tod nur ein Schritt ist, den man tut, um weiterzukommen.

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Siniweler - Ohne Tal

Kein Ort zum Verweilen, nirgends. Wohin uns die Reise führt? Geradewegs lotrecht zu allem, was das Herz schneller schlagen lässt.

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