Montag, 18. September 2006

nashville

Seit langem wieder mal in den Staaten. Sitze im Gaylord Opryland Hotel in Nashville und lese nochmals den Text von Christoph Ransmayr, der gestern meinen Flug begleitete und mich umwarb, als draussen über Neufundland der Tag klirrte. Es ist 4:00 morgens hier im Las-Vegas von Tennesse - die endlosen Skywalks und Rolltreppenarrangements inmitten von Wasserkaskaden sind ausgestorben - und ich spaziere mir den Kulturschock aus dem Kopf. Seit ich angekommen bin - gestern nachmittags in Washington, durch ein schepperndes Garagentor eingetreten ins gelobte Land -, muss ich ans Sterben denken. Europäischer Reflex auf klinisch gepflegte Oberflächen. Ich springe auf und durch das Fenster, dass die Scheiben klirren. Doch am Boden keine Scherben ...

Ich starb
6840 Meter über dem Meeresspiegel
am vierten Mai im Jahr des Pferdes.

Der Ort meines Todes
lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel,
in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte.

Die Lufttemperatur meiner Todesstunde
betrug minus 30 Grad Celsius,
und ich sah, wie die Feuchtigkeit
meiner letzten Atemzüge kristallisierte
und als Rauch in der Morgendämmerung zerstob.

Ich fror nicht. Ich hatte keine Schmerzen.
Das Pochen der Wunde an meiner linken Hand
war seltsam taub.
Durch die bodenlosen Abgründe zu meinen Füßen
trieben Wolkenfäuste aus Südost.

Der Grat, der von meiner Zuflucht
weiter und weiter
bis zur Pyramide des Gipfels emporführte,
verlor sich in jagenden Eisfahnen,
aber der Himmel über den höchsten Höhen
blieb von einem so dunklen Blau,
daß ich darin Sternbilder zu erkennen glaubte:
den Bärenhüter, die Schlange, den Skorpion.

Und die Sterne erloschen auch nicht,
als über den Eisfahnen die Sonne aufging
und mir die Augen schloß,
sondern erschienen in meiner Blendung
und noch im Rot meiner geschlossenen Lider
als weiß pulsierende Funken.

Selbst die Skalen des Höhenmessers,
der mir irgendwann aus dem Klumpen
meines Handschuhs gefallen
und in die Wolken hinabgesprungen war,
blieben wie eingebrannt in meine Netzhaut:
Luftdruck, Meereshöhe, Celsiusgrade ...
jeder Meßwert des verlorenen Instruments
eine glühende Zahl.

Als zuerst diese Zahlen
und dann auch die Sterne verblaßten
und schließlich erloschen, hörte ich das Meer.

Ich starb hoch über den Wolken
und hörte die Brandung,
glaubte die Gischt zu spüren,
die aus der Tiefe zu mir emporschäumte
und mich noch einmal hochtrug zum Gipfel,
der nur ein schneeverwehter Strandfelsen war,
bevor er versank.

Das Krachen des Steinhagels,
der mir die Hand wundgeschlagen hatte,
das Fauchen der Böen, mein Herzschlag ...
verhallten in der Flut.

War ich am Grund des Meeres?
Oder am Gipfel?
In einem schmerzlosen Frieden,
von dem ich heute weiß,
daß er tatsächlich das Ende war, mein Tod
und nicht bloß völlige Erschöpfung,
Höhenwahn, Bewußtlosigkeit,
hörte ich eine Stimme, ein Lachen:

Steh auf!

Es war die Stimme meines Bruders.

Wir hatten uns im Wettersturz
der vergangenen Nacht verloren.
Ich war gestorben.
Er hatte mich gefunden.

Ich öffnete die Augen. Er kniete neben mir.
Hielt mich in seinen Armen. Ich lebte.
Mein Puls tobte in der Steinschlagwunde
an meiner Hand; mein Herz.

Ich hatte die Spur meines Bruders
in einem Schneesturm verloren,
in dem der Mond wie unter einer Sturzwelle
schwarzen Wassers erloschen war.
Der Sturm hatte uns auseinandergerissen
und mich in einer Finsternis,
in der allein der von Eiskristallen zersiebte
Schein meiner Stirnlampe zu sehen war,
in den Windschatten einer Felsnadel gejagt.
Dort hatte ich bis zum Sonnenaufgang überlebt.

Steh auf!

Mein Bruder kniete neben mir.
Hielt mich in seinen Armen.
Erhob sich dann wie unter einer Zentnerlast
und versuchte auch mich hochzuziehen.
Lachte.
Fluchte vor Ratlosigkeit.
Sein Gesicht, seine Sturmmaske,
war eine Fratze aus Eis.

Wieviel Zeit war seit unserer Trennung vergangen?
Die Sonne stand nun hoch über dem Gipfelgrat.
Der Himmel: wolkenlos.
Und im Schatten der Felsnadel,
im Schatten meiner Zuflucht: Windstille.

Ich lebte.
Es schneite.

Schwarzer Schnee?
Schwarzer Schnee:
Wie verkohltes,
von einem unsichtbaren Feuer zerrissenes Papier
taumelten schwarze Flocken
aus der Wolkenlosigkeit.

Aber als sich eine dieser Flocken
auf den eisverkrusteten Handschuh
meines Bruders setzte,
eine andere auf seine Schulter,
auf meine Brust, meine Stirn,
sah ich Fühler!
sah ich die Fadenglieder von Insekten,

Flügel: In einem Panzer aus Rauhreif,
der ihre Facettenaugen, Saugrüssel und Flügelschuppen
übertrieb und vergrößerte,
schneiten tote Schmetterlinge
auf mich und meinen Bruder herab,
zuerst vereinzelt, dann zu Hunderten,
schließlich in einem wirbelnden,
den Himmel verfinsternden Schwarm.

Manche dieser filigranen Kadaver
schienen beim Aufprall auf meiner Brust,
auf dem Handschuh meines Bruders
zu zerspringen,
und ich glaubte ein Klirren zu hören.

Ein Klirren?
Nein, es war still.
Vollkommen still.

Aus einem Himmel, der im Zenit
schon die Schwärze des Alls anzunehmen schien,
fielen eisstarre Falter, Apollofalter,
wie wir sie vor Wochen in den Tälern von Kham
gesehen hatten, in riesigen Schwärmen
über den Gebetsfahnengirlanden
eines zerstörten Klosters,
über einem Gletschersee,
einem Rhododendrenwald.

Ich war müde, unsagbar müde.
Wollte liegenbleiben.
Liegenbleiben, schlafen.
Schlafen.

Steh auf!

Mein Bruder zog, zerrte mich hoch,
sank mit mir in den Schnee zurück.

Und ich kauerte in seinen Armen,
6840 Meter über dem Meer,
und starrte durch einen dunklen Flockenwirbel
auf die Eisfahnen des Phur-Ri,
auf den blendenden Gipfel des fliegenden Berges,
auf dem ich unsere Namen
mit dem Schaft meines Eispickels
in den Schnee geschrieben hatte.
Ich lebte.

Du glaubst, geschlafen zu haben,
höre ich Nyema sagen und sehe,
wie sie Tashi, einen rußigen,weinenden Säugling,
auf ihren Armen wiegt,
du glaubst, geschlafen, geträumt zu haben,
und warst doch tot: deinem Leben fern.
Warst tot und bist zurückgekehrt,
weil eine Hand dich zurückgezogen,
eine Stimme dich zurückgerufen hat.

Nyema lachte oft,wenn sie sprach.
Ich glaube, es war ihre Heiterkeit,
die mir bewußt werden ließ, daß es an jenem Morgen
unter der Gipfelpyramide des Phur-Ri
wohl nicht die Worte meines Bruders gewesen waren,
die mich ins Leben zurückbefohlen hatten,
sondern sein Lachen.

Er hielt mich in seinen Armen
und lachte, rief lachend es schneit!
Es schneit Schmetterlinge! Steh auf!

Es war, als ob sich erst in diesem Lachen
auch alle anderen Geräusche und Worte
wieder aus der vollkommenen Stille lösen durften:
das Kreischen eines Steigeisens
auf dem vom Eis glasierten Fels,
das Klingen des Blutes in meinem Kopf,
unser Atemgeräusch,
das in der dünnen Luft dieser Höhe
dem Hecheln von Tieren glich.

Vielleicht sah mein Bruder an meinen Augen,
daß es vor allem sein atemloses Reden war,
das meine Aufmerksamkeit gefangennahm
und mich Satz für Satz in unser Leben zurückzog.
Er sprach so eindringlich und hastig,
als wären seine Worte die letzte Möglichkeit,
mich zu erreichen,
und ich müßte für immer verschwinden,
wenn er verstummte.

aus Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg

Siniweler - Ohne Tal

Kein Ort zum Verweilen, nirgends. Wohin uns die Reise führt? Geradewegs lotrecht zu allem, was das Herz schneller schlagen lässt.

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