Das Wahre?
Das Wahre hat keine Fenster.
Walter Benjamin
Aufgeschnappt am Eingang Künstlerhaus, heute im Stau.
Das Wahre hat keine Fenster? Jedes Nachdenken beginnt mit dem Infragestellen. Wenn das Wahre keine Fenster hat, ist es verschlossen, opak - unzugänglich? Hat das Wahre Türen? Was will uns W.B. sagen? Das Wahre als erratischer Block. Unzumutbar. Ein Ärgernis. Keine Belüftung, Aktualisierung möglich. Was wären die Fenster im Wahren - die Kompromisse, die Perspektiven? Das Wahre hat keine Perspektive? Oder vereint es alle? Wie ein Gemälde von Piccasso? Oder doch die fensterlosen Monaden? Leibnitz? Wahrheit modert dahin, Wahrheit ist nie modern.
Wer hilft?
Wie einfach daneben doch das Adorno-Zitat:
Es gibt kein Wahres im Falschen.
coyote05 - 16. Nov, 16:10
So, jetzt aber.
In The Vision and the Voice wird ein, m. E. sehr adäquates, Bild der Wahrheit skizziert:
Eine Feder (das ist ein Bezug auf Maat aus der ägyptischen Mythologie), an der riesige, die Welten haltende Waagschalen aufgehängt sind.
Jede kleinste Bewegung - auch die des Geistes - bringt eine Erschütterung der Feder; die Waagschalen schlagen aus und die Wahrheit, nur zu finden in Waaghalt der Gleichwertigkeiten, ist hin: Ist sozusagen durch die Subjektivität der Wahrnehmung schon verzerrt. Nur in der alles enthaltenden Stille des Nichts steht die Feder ganz still.
da halte
Die bombastische Formulierung ist von mir - mit Absicht unge(s)tüm. Der Originaltext hat nur das Paradoxon der Waagschalen, die an einer Feder aufgehängt sind.
aber: sie vergessen die dialektik!
" ... es kommt nach meiner Einsicht ... alles darauf an, das Wahre nicht als , sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. Zugleich ist zu bemerken, dass die Substantialität so sehr das Allgemeine oder die Unmittelbarkeit des Wissens selbst als auch diejenige, welche Sein oder Unmittelbarkeit für das Wissen ist, in sich schließt."
G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden, Bd.3., s23, Frankf./M./suhrkamp 1970
und weiter: "Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegengesetzte Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst - nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche - ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist."
ebenda, s.23
Hanging Hegel
Nicht umsonst sind über Jahrtausende gewachsene Symbole, die mit Wahrheit, Gerechtigkeit (und Anderem) assoziiert werden sächlich. Die Waage, die als Symbol für beides gilt, ist dort nicht einfach hingesetzt worden, weil in irgendeiner Initiationsschule grade jemand betrunken war und dem nichts Anderes einfiel. Und, das nehme ich mir heraus: Ich teile nicht die Arroganz der modernen Philosophie, auf die Alten Schulen herabzublicken. Sie haben einige Tausender (an Jahren) mehr auf dem Buckel als Hegel.
Goethe, klug wie er war, hat dieser Symbolik nicht widersprochen.
Alles, was mir im Sinn stand, war, dieses Bild aus genannter Quelle als Inspiration mitzuteilen.
Verzeihen Sie das Monströse meiner Dialektik, wenngleich mir nicht aufgehen will, was die mit dem Bild an sich zu tun hat. Es ist nach wie vor simpel: Sobald Mens es berührt, verliert es das Gleichgewicht und wird subjektiv.
Und somit hat Benjamin recht. Das Wahre hat keine Fenster, kann nicht von Mens betrachtet werden ohne dass es verzerrt würde. Man kann sich weder ins Wahre setzen und hinaus-, noch von außen hineingucken. Es i s t. Und ist erfahrungsgemäß nur im Zustand erfahrbar, der von den Hindus bspw. als Samadhi bezeichnet wurde (wobei die Benennung ebenfalls irrelevant ist), wenn man das Bewußtsein also in den urspünglichen Zustand der Einheit versetzt, somit also Wahrheit ebenso erfährt wie i s t.
Dabei gings mir doch nur ums Lesen!
Sie sind dem Subjekt Source
Schauen Sie doch nur hin: Nicht einmal zwei Personen (in diesem Falle wir) können sich auf eine Wahrheit oder auch nur einen Wahrheitsbegriff einigen. Keine zwei Personen, die zu gleicher Zeit bei einem gleichen Ereignis zugegen waren, werden eine gleiche Schilderung dessen abgeben.
Ich bezweifle, dass das Wahre einen poetischen Aspekt hat (außer, man postuliert sozusagen "von oben", aus der Samadhi-Erfahrung heraus: Es hat alle Aspekte und keinen). Vielmehr mag die Lyrik, ebenso wie die Musik, als eine der Wenigen Möglichkeiten bereitstehen, das Unnennbare zu umreißen.
Und das hat Benjamin mit diesem Satz zweifellos getan - was g r o ß ist jenseits aller Worte.
Nachtrag:
Und a propos Lesen. Da ist mir noch ein sehr schöner kleiner Text eingefallen, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
Im Walde traf Gott auf den Hirschkäfer: "Halt! Verehre mich!" sagte Gott
"Denn ich bin der Allergrößte, Allerbeste, All-Weise... Die Sterne sind nur Funken aus den Essen meiner Schmieden..."
"Ja, wahrlich und Amen", sagte der Hirschkäfer, "all dies glaube ich und das in aller Frömmigkeit".
"Warum verehrst du mich dann nicht?"
"Weil ich wirklich bin und du nur eingebildet".
Doch die Blätter des Waldes raschelten im Lachen des Windes.
Sprachen Wind und Wald: "Sie wissen beide nichts".
[Kommetar des Autors, ebenda: "Das Kapitel ist eine Auflösung des Universums in das Tetragrammaton, Gott, der Makrokosmos und der Mikrokosmos - Käfer. Beide bilden sich ein, zu existieren, beide sagen "du" und "ich" und diskutieren ihre relative Realität.
Die Dinge, welche wirklich existieren, die Dinge, die kein Ego besitzen und nur in der dritten Person sprechen, betrachten diese wegen ihrer Annahme zu wissen als unwissend".
(Aus: Aleister Crowley: "Das Buch der Lügen - Fälschlicherweise so genannt")]
Zur Lesefreude - und weil es so schön passte *lächelt.
sorry aber ...
quasi die CONDITIO SINE QUA NON unserer Nicht-Existenz und -
ganz ehrlich - würde Gott - gäbe es ihn - jemals so etwas sagen ...?
*lächelt zurück
Lacht herzlich.
Die dahinterliegende These scheint mir jedenfalls "wahr"/stimmig. Als sozusagen selbsterschaffende Wesen kreieren wir unsere Realität selbst - und somit auch unsere subjektiven Wahrheiten. Ich glaube, im zitierten Text ist gemeint: Die Dinge ohne Ego haben eine unmittelbare Wahrnehmung, wir aber eine mittelbare, da konditionierte, und somit verzerren wir die Unmittelbarkeit der Einheit/Wahrheit; sehen ergo nur die Verzerrung.
Diese ganze Thematik ist von den östlichen Mystikern und Poeten aufgegriffen worden in weicherer Weise. Bekanntestes Beispiel dürfte jener Text sein, in dem der Autor sich fragt ob er schlief und träumte oder geträumt wurde oder auch der Text, in dem er sich fragt, ob er der Schmetterling ist, der den Menschen beobachtet oder der Mensch, der den Schmetterling sieht.
Und: Ja, der eifersüchtige Demiurg der jüdisch/christlichen Welt, wenn man ihn denn auf diesen Punkt reduziert, würde genau das sagen. Zumindest lässt das Alte Testament da keinen Zweifel.
"Dinge ohne Ego"
Aber ich zögere immer, wenn dies so rückhaltlos und absolut dargestellt wird.
Wenn ein Gegenstand von jemandem angestoßen wird und deshalb umfällt, und zwanzig Menschen stehen rundherum, haben nicht alle diesen Vorgang gleich gesehen? Mal abgesehen davon, dass sich jeder der zwanzig Beobachter in wüste Interpretation dieses, eigentlich recht einfachen Geschehens, versteigen könnte?
Ich bin mir einfach nicht sicher, ob man "Einheit" und "Subjektivität" dermaßen kategorisch und absolut vertreten darf.
Das ist ein schöner Gedanke:
@Hediger
@V: Ich sehe rein gar nichts Absoulutes darin, ganz im Gegenteil: Absoulut wäre es dann, würden all diese Personen das gleiche sehen. Man könnte annehmen, sie tun es - aber dem ist nicht so. Machen Sie den Test.